Lernen in die Haltung des Nicht-Wissens zu gehen gehört zu jedem systemischen Handeln. Wenn uns das gelingt, erfahren wir wie Widerstand als Thema verschwindet und sich ein Raum für Möglichkeiten und Lösungen breitmacht. Die Bekanntschaft mit „drei kostbaren Ressourcen“ der Strukturaufstellungen bringt Sicherheit im Ungewissen, der Umgang mit nicht planbaren, unvorhersehbaren Situationen wird besser.
Fragende Haltung und Nicht-Wissen
Eines Tages fragte ein Nachbar Nasreddin Hodscha, ein Querdenker aus dem Osten: „warum beantwortest du jede Frage mit einer Gegenfrage?“ Nasreddin entgegnete: „Tu ich das wirklich?“
Systemisch zu arbeiten heißt auch zu fragen, anstatt Antworten zu geben, denn wir können uns nur fragend dem Ganzen nähern. Die Frage weist in die Richtung der Vervollständigung, die Antwort fällt Unterscheidungen. Das Nicht-Wissen gehört also zur systemischen Haltung. Das bedeutet auch, dass die Beraterin das, was sich zeigt erst dann erfassen kann, wenn sie sich mit ihrer Meinung, ihrer Theorie, Hypothese, ihrem Erfahrungswissen, kurz ihrem Bezugsrahmen zurückhält.
Wenn der Beraterin die Haltung des Nicht-Wissens verloren geht, beginnt sie, das, was sich zeigen könnte, einzuschränken. Ihr Denken, ihr „Wissen“ aus ihrem eigenen Bezugsrahmen bestimmt die Interaktion mit der Klientin und grenzt den Möglichkeitsraum zwischen ihr und Klientin ein.
Nicht-Wissen ist daher eine Schlüsselkompetenz für Beraterinnen und Coaches, wenn sie den Bezugsrahmen, die Wünsche ihrer Kunden erforschen wollen. Nicht-Wissen bezieht sich dabei auf die Inhalte und betont dass die Kunden selbst diejenigen sind, die Experten für ihr eigenes Leben sind.
Der Begriff stammt von Anderson und Goolishian, die die Haltung des „Nicht-Wissens“ als eine Haltung beschreiben, die reichhaltige, aufrichtige Neugier vermittelt. Mit anderen Worten du lernst als systemische/r Coach Schritt für Schritt in einer Form lebenslangen Lernens, wie du deinen Kunden gegenüber eine Haltung des „Nicht-Wissens“ einnehmen kannst.
Die Haltung des Nicht-Wissens einzunehmen und aufrechtzuerhalten braucht engagierte Praxis und Ausdauer. Sobald sich das Nicht-Wissen als Haltung etablieren und sich entfalten beginnt, ist sie jedoch sehr entlastend für alle, die systemisch arbeiten.
Lernen in die Haltung des Nicht-Wissens zu gehen, auf Interpretation und Hypothesen zu verzichten gehört zu jedem systemischen Handeln. Wenn uns das gelingt, erfahren wir wie Widerstand als Thema verschwindet und sich ein Raum für Möglichkeiten und Lösungen breitmacht.
Drei kostbare Ressourcen: Nicht-Wissen, Hilfslosigkeit, Verwirrung
Nicht Vorausdenken, im Moment sein, mit dem Nichtwissen umzugehen, den nächsten Schritt entstehen zu lassen, in der fragenden Haltung zu bleiben, die Hilfslosigkeit, die Verwirrung, die dabei auftauchen können auszuhalten ist eine Herausforderung für alle, die eine Strukturaufstellung leiten.
Nicht-Wissen, Hilfslosigkeit, Verwirrung wurden von Insa Sparrer und Matthias Varga von Kibéd liebevoll als “Drei kostbaren Ressourcen” genannt. Sie sind Ressourcen für das systemische Handeln, für das Querdenken, für verschiedenste Arten von kreativen Prozessen und nicht zuletzt auch für die Leitung von Systemischen Strukturaufstellungen.
Das Nicht-Wissen öffnet den Zugang zur Selbstwahrnehmung und ermöglicht uns, immer wieder offen zu bleiben statt vorauszudenken, neu zu fragen, hinzuschauen und wahrzunehmen.
Der Versuch der Verwirrung aus dem Weg zu gehen hängt mit dem Wunsch zusammen, umfassend zu beherrschen.
Die Hilfslosigkeit erinnert uns, dass wir etwas so Komplexes wie z.B. eine Strukturaufstellung niemals alleine “machen” oder leiten -i.S.v. steuern- können. Daher wurde von den Gründerinnen Sparrer und Varga von Kibéd der Begriff Gastgeberschaft geprägt.
Die Geschenke, die die Bekanntschaft mit Verwirrung, Hilfslosigkeit und Nicht-Wissen bringt, haben sie mit dem wunderschönen Sprichwort “aus der Knospe der Verwirrung hebt sich die Blüte der Verwunderung” aus dem Tasawwuf beschrieben.
Wir begleiten vielmehr, halten den Raum, laden die drei kostbaren Ressourcen: das Nicht-Wissen, die Hilfslosigkeit und die Verwirrung ein, uns zu unterstützen. Als Gastgeberinnen werden wir natürlich vom umfangreichen, wertvollen Wissen der SySt-Grammatik, SySt-Formaten und Systemprinzipien begleitet, die uns Struktur und Orientierung geben. Sie sind auch eine wichtige Quelle für Fragen und Interventionen. Es ist ein Beides, sowohl das SySt-Wissen als auch die drei kostbaren Ressourcen, die uns dabei begleiten und uns darauf vertrauen lassen, dass ein nützlicher nächster Schritt, eine ressourcenreiche Lösung für Kunden bzw. Kundensystem entstehen wird.
Die Bekanntschaft mit drei kostbaren Ressourcen bringt Sicherheit im Ungewissen, der Umgang mit Nicht-Planbaren und Unvorhersehbaren wird besser.
Vom Nicht-Wissen zu dem Wissen zwischen uns
Wenn wir auf der einen Seite Bekanntschaft mit den drei kostbaren Ressourcen gemacht haben, erleben wir auf der anderen Seite in einer Strukturaufstellung, dass wir in einer Gruppe oder in einer Gemeinschaft von Personen etwas wissen können, das wir für uns alleine nicht wissen bzw. auf andere Weise wissen können, als wir sonst wissen. „In den Systemischen Strukturaufstellungen zeigt sich das Wissen zwischen uns. Alle wesentlichen Gedanken fließen letztendlich aus der Quelle dieses Wissens. Wir sind nur Gefäße dafür“ meint Insa Sparrer.
Mehr zum Wissen zwischen uns und zum Metapher der Verbindung im nächsten Artikel.
Esin Suvarierol, Februar 2022
Hinweis: Aus Gründen der Lesbarkeit habe ich auf durchgängiges Gendern verzichtet, Männer sind natürlich mitgemeint.
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